[197] Zwei Wege stehen offen, Mozarts Werk – das instrumentale und das vokale – im einzelnen zu betrachten. Beide haben ihre Vorteile und ihre Nachteile. Man kann, ohne die Gattungen zu scheiden, chronologisch von Werk zu Werk fortschreiten, von den Menuetten des Knaben bis zum Requiem, und wird Wachstum vom Keim bis zu den Früchten des weitschattenden Baums verfolgen können: – die herrliche Einheit dieses Oeuvre, trotz Hemmungen, Rückschlägen und Lücken – denn keineswegs das Gesamtwerk Mozarts ist erhalten. Aber die Darstellung wird auf diesem Wege zu sehr vom Biographischen her bestimmt, sie gerät in die Gefahr des Rationalistischen auf der einen Seite, in die des Unübersichtlichen, Verwirrenden auf der andern.Die Scheidung nach Gattungen läuft eine andere Gefahr. Sie trennt, was zusammengehört; denn oft wird das Vokale vom Instrumentalen her und das Instrumentale vom Vokalen her beeinflußt. »Zauberflöte« und die Stücke für eine mechanische Orgel haben gewisse stilistische Gemeinsamkeiten, zu schweigen von Werken gleichen Gebietes, aber verschiedener Bestimmung, wie »Zauberflöte« und »Requiem«. Weit auseinander Liegendes ist manchmal zu verbinden, wie das erste Salzburger Streichquintett mit den fünf oder sechs Meisterwerken der letzten Wiener Jahre.Das scheint nicht möglich ohne einige Gewaltsamkeit. Dennoch ziehen wir diesen Weg vor. Denn Mozarts Schaffen ist nicht nur ein universales, sondern auch ein sehr stetiges auf allen Gebieten. Er springt zwar von einem Werk zum andern, aber er scheidet sehr genau, in Wahrheit: – immer genauer die[197] einzelnen Gattungen, wenn er auch manchmal ein Werk schafft, das ganz persönlich, das ganz »sui generis« ist. In »La clemenza di Tito« wird die Opera seria mehr Opera seria, in »Così fan tutte« die Opera buffa mehr buffa, in der »Zauberflöte« das Singspiel mehr Singspiel, nämlich »Teutsche Oper«. Noch deutlicher zeigt sich das in der Instrumentalmusik. Ein Divertimento wird mehr Divertimento, ein Quartett mehr Quartett – Mozart schreibt in späten Jahren lieber ein Divertimento für drei Streicher, ehe er eins für viere der Verwechslung mit einem echten Streichquartett aussetzt. Zur Zeit, da er Instrumentales zu schreiben beginnt, findet er das ganze Gebiet des Sinfonischen und des Kammermusikalischen in einiger Verwirrung, und er teilt anfänglich diese Verwirrung. Aber mit jedem Jahr wird sein Geschmack feiner, sein Gefühl für die Bedingungen und Gegebenheiten der Gattungen wählerischer.
Der Gang der Darstellung ist gegeben. Zu scheiden ist vor allem Mozarts Werk für Klavier und für alle Gattungen, an denen das Klavier beteiligt ist, von der übrigen Kammermusik – die sich nur dadurch umgrenzen läßt, daß das Klavier in ihr eben keine Rolle spielt. Und Kammermusik scheidet sich von selber ab von der Sinfonik, in der die Blasinstrumente immer wesentlicher werden. Es gibt noch einen andern Gegensatz zur Kammermusik, die Serenaden und Kassationen, für Aufführung im Freien bestimmt, einigermaßen geschieden auch von den Divertimenti für die Kammer. Um etwas für das 19. und 20. Jahrhundert Paradoxes, aber für das achtzehnte Selbstverständliches zu sagen: Kammermusik für Streicher allein ist seriöser als Kammermusik mit Klavier. Ein Streichquartett bewegt sich auf einer höheren Ebene, in einer ernsteren Sphäre als etwa ein Klaviertrio. Warum das so ist, läßt sich nur historisch begreifen; aber wer nachdenkt und abwägt, wird zugeben, daß es sich so verhält, nicht bloß bei Haydn und Mozart, sondern in gewissem Sinn sogar noch bei Beethoven. Aber Mozart hat als Klavierspieler begonnen und wäre nicht Mozart gewesen, wenn er nicht sein Instrument zu einer Apotheose geführt hätte. Das Kammermusikalische, das Sinfonische, das Pianistische, vereinigt sich und verschmilzt in seinem Klavierkonzert, dem Gipfel seines instrumentalen Schaffens. Wir werden nicht[198] fehlgehen, wenn wir erst das Kammermusikalische und Sinfonische, dann das »Klavieristische« betrachten, nämlich sein Werk für Klavier allein und in Verbindung mit andern Instrumenten, und schließlich in einem eigenen Kapitel die Synthese, das Klavierkonzert.
Quelle:
Einstein, Alfred: Mozart. Sein Charakter, sein Werk. Zürich, Stuttgart 31953, S. 197-199.
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